Auch wenn wir das Jahr 2023 schreiben, sind Frauen in technischen Berufen weltweit immer noch in der Minderheit. Das führt zu vielen Problemen im Berufsalltag - und vor allem zu einem mulmigen Gefühl bei den Frauen selbst, weiß Software-Testerin und Coach Kris Corbus. Seit mehr als 20 Jahren ist sie in der IT-Branche tätig, hat viel erlebt und noch mehr beobachtet.
Im Gespräch mit WeAreDevelopers verrät die Entwicklerin aus Jena, mit welchen Herausforderungen weibliche Entwickler nach wie vor zu kämpfen haben, warum es oft einfacher ist, das eigene Geschlecht zu verstecken und was Arbeitgeber für ein sicheres und diskriminierungsfreies Arbeitsklima tun können.
Kris, du bist selbst ein „weibliches Tech-Talent“ - wie fühlst du dich als Frau in der IT-Branche?
Ich habe jahrelang versucht, mein Geschlecht zu ignorieren und viel getan, um als Frau nicht aufzufallen. Am liebsten hätte ich meine Brüste abgenommen, wenn ich ins Büro gekommen wäre (lacht bekümmert). Man will nicht auf die Rolle des Repräsentanten eines Geschlechts reduziert werden, und das hat mich gezwungen, mich anders zu verhalten - nur weil ich keinen Penis hatte.
Erst sehr spät habe ich gemerkt, dass ich mit solchen Themen nicht alleine bin, sondern dass auch andere Kolleginnen diese Probleme haben. Da habe ich verstanden: Es liegt nicht an einzelnen Männern oder Frauen, es liegt an der Gesellschaft. Seitdem spreche ich diese Themen offen an und fordere die Leute auf, nicht nur zuzuschauen, sondern auch Stellung zu beziehen und sich nicht aus der Diskussion herauszuhalten.
Unsere Studie zeigt, dass Frauen in der IT-Branche immer noch mit Diskriminierung zu kämpfen haben. Wie hast du das selbst erlebt?
Das beginnt bei typischen „Frauenaufgaben“ wie Kaffee kochen oder Gemeinschaftsküche aufräumen, die einer zugeschanzt werden. In anderen Fällen wurde ich bei Projekten, die mich interessiert hätten, übergangen, weil man mir nicht zutraute, das mit Kindern zu schaffen - obwohl ich wie alle anderen Vollzeit gearbeitet habe. Und nicht zuletzt musste ich auch schon früh in meiner Karriere mit Belästigung und Stalking zurechtkommen, ohne hier Hilfe zu erhalten.
Du arbeitest seit vielen Jahren in der IT-Branche. Bemerkst du eine Veränderung der Situation von Frauen?
Vor allem in den großen Konzernen wird heute mehr auf Diversity geachtet. Führungskräfte werden entsprechend geschult, das sollte die Arbeit natürlich entspannter machen. Aber ich bin leider immer noch oft die einzige Frau im Team.
Wir hatten neulich ein Teamevent, bei dem ich als Frau allein mit acht männlichen Kollegen im Wald übernachtet habe. Nun ist es natürlich so, dass ich es als Frau seit vielen Jahren gewohnt bin, potenziell gefährlichen Situationen aus dem Weg zu gehen - und allein mit acht Männern im dunklen Wald zu campen, fällt definitiv in diese Kategorie. Meine Kollegen sind sehr nett – aber ich habe trotzdem entschieden, nur die Aktivitäten bei Tageslicht mitzumachen und danach nach Hause zu fahren.
Zeigen Arbeitgeber hier deiner Meinung nach zu wenig Fingerspitzengefühl?
Leider - aber nicht nur in Bezug auf Frauen. Ich sehe auch immer wieder Stellenanzeigen, in denen mit Tischfußball geworben wird. Ich bin "on the spectrum", wie man im Englischen so schön sagt - laute, plötzliche Geräusche machen mir Angst. Wenn jetzt so ein Kicker im Aufenthaltsraum oder im Speisesaal steht, kann ich meine Pausen nicht mehr in Ruhe genießen und mich entspannen. Ich würde mir wünschen, dass auch hier mehr Rücksicht auf neurodiverse Menschen genommen wird. Bei meinem aktuellen Arbeitgeber habe ich ein Schachbrett im Aufenthaltsraum - das entspannt auch! (lacht)
Unsere Studie zeigt, dass gerade Frauen die berufliche Anerkennung sehr wichtig ist. Werden deiner Erfahrung nach die Leistungen von weiblichen IT-Fachkräften ausreichend anerkannt?
Die Vorgesetzten sind meist männlich, da wird von vornherein wenig auf Anerkennung geachtet, scheint mir. Es gibt aber auch eine Bringschuld der Frauen: Das klassische "Dornröschen-Syndrom", bei dem eine Frau hofft, dass jemand ihre Wünsche errät, hat ausgedient. Das Universum muss hören, was man sich wünscht - nur so kann es wahr werden. Sei es ein Projekt, eine Beförderung oder einfach nur Anerkennung.
Was zeichnet deiner Meinung nach weibliche IT-Talente aus? Gibt es einen gemeinsamen Nenner oder sind alle völlig unterschiedlich?
Frauen gibt es in allen Größen, Formen und Qualitäten. Und das ist auch gut so: Wenn es etwas gibt, was wir in der IT brauchen, dann ist es Vielfalt! Nur so können wir die Probleme unserer Kunden lösen, die ja auch nicht alle gleich sind. Solange nur eine Frau im Team ist, muss sie sich integrieren, um nicht unnötig aufzufallen. Zudem fehlen die weiblichen Vorbilder: Wer aufsteigen will, muss erfolgreiche Männer kopieren – und verliert dadurch auch ein Stück weit die eigene Identität. Meiner Erfahrung nach braucht es mindestens drei Frauen im Team, damit sich die Situation entspannt. Aber davon sind wir in vielen Unternehmen noch weit entfernt (lacht).
Wie sehen weibliche Karrierewege aus? Wie unterscheiden sie sich deiner Erfahrung nach von denen der Männer?
Solange es keine starken Frauennetzwerke gibt, müssen sich die meisten Frauen immer noch alleine hochkämpfen und dabei auch viel einstecken. Das macht sie natürlich bis zu einem gewissen Grad verbittert und bissig - und damit auch keine große Hilfe für die Frauen, die nachkommen. Hinzu kommt, dass oft nur Frauen ohne Kinderbetreuungspflichten nach den männlichen Spielregeln spielen können, die dann entsprechend oft unter ihrer Kinderlosigkeit leiden. Hier gibt es also noch viel zu tun für die Arbeitgeber.
Stichwort Gender Pay Gap: Werden Frauen in der IT ausreichend bezahlt oder hast du das Gefühl, dass sie hinter ihren männlichen Kollegen zurückbleiben?
Da habe ich eine ganz klare Botschaft an alle Arbeitgeber, Führungskräfte und Personalverantwortlichen: Hört auf, die Unsicherheit von Frauen auszunutzen! Viele Frauen wissen leider immer noch nicht, was sie im Gehaltsgespräch verlangen können. Arbeitgeber nutzen diese Unwissenheit aus - und versuchen, mit einem blauen Auge davonzukommen.
Oft wird den Beschäftigten im Arbeitsvertrag verboten, mit anderen über ihr Gehalt zu sprechen. Das ist nicht nur rechtswidrig, sondern verhindert auch, dass Frauen sich dieser Ungleichbehandlung bewusst werden. Mein Appell lautet daher: Frauen müssen ihren Marktwert kennen - und Arbeitgeber dürfen nicht länger ungestraft davonkommen, wenn sie Frauen weit unter ihrem Wert einstellen.
Was würdest du jungen Frauen raten, die in der IT arbeiten wollen?
Ich stelle immer wieder fest, dass die Coding Skills von jungen Frauen unglaublich gut sind. Um das technische Know-how zu vermitteln, brauchen sie aber auch Power Skillls: Verhandlungsgeschick, Selbstbewusstsein und der Fähigkeit, Grenzen zu setzen und auch mal Nein zu sagen.
Mein Rat an junge, aber auch an erfahrene Frauen im Beruf ist, sich einen Ordner mit allen Auszeichnungen, Lobeshymnen, Dankesbriefen und Ähnlichem anzulegen und diesen regelmäßig zu lesen, um das eigene Selbstbewusstsein zu pushen. Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, was wir können und was wir schon erreicht haben, um nicht in Selbstzweifel zu verfallen. Davor haben viele Frauen immer noch Angst, sie wollen nicht angeberisch wirken. Dem halte ich entgegen: "Man gibt nicht an, wenn es stimmt!"
Was können Arbeitgeber tun, um mehr weibliche IT-Talente anzusprechen und „safe spaces“ für Frauen in der IT zu schaffen?
Das beginnt schon beim Vorstand: Es braucht erfolgreiche weibliche Vorbilder, die nicht nur Quotenfrauen sind. Zudem braucht es laufende Kommunikation und Information darüber, was akzeptables Verhalten ist und was nicht. Dazu Diversity- und Frauenförderungstrainings für Führungskräfte und Kommunikationstrainings für alle Führungskräfte und Vorgesetzten.
Und dann gibt es das große Feld der Unternehmenswerte: Hier würde ich den Arbeitgebern raten, alle Werte daraufhin zu überprüfen, wie sie sich auf das individuelle Schicksal der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auswirken.
Dein Fazit: Wie steht es um die Frauen in der IT - und wie geht es weiter?
Frauen in der IT wollen einfach ihren Job machen. Sie wollen keine Sonderbehandlung und keine Quotenfrauen sein, sie wollen wachsen und lernen und Aufgaben bekommen, die spannend und herausfordernd sind - und zwar unabhängig von körperlichen Merkmalen und Geschlechtsorganen.
INFO: Kris Corbus ist leidenschaftliche Software-Qualitäts-Evangelistin, Meet-up-Gründerin, Konferenzorganisatorin, Rednerin, Mentorin, Trainerin und Coach. Die gebürtige Lettin liebt es, hinter die Kulissen von Software zu blicken und Zusammenhänge und Muster hinter Fehlern, Projektentwicklung, Softwarequalität, Unternehmenskultur, Management, Kundenleistung und Teamgeist zu erkennen. Weitere Informationen unter https://kccoaching.eu/de/kris-corbus/