In den letzten pandemiegebeutelten Jahren hat sich die Einstellung vieler Menschen zur Arbeit und zu Arbeitszeitmodellen in Richtung mehr Flexibilität und Work-Life-Balance gewandelt: Nachdem Island im Jahr 2015 als Pionierland den ersten Versuch einer Vier-Tage-Woche gestartet hatte, wagen heute immer mehr europäische Länder die probeweise Umstellung ihres Arbeitsmodells. Besonders Innovationsleader der Tech-Branche bezeichnen die Fünf-Tage-Woche im Zeitalter der digitalen und agilen Zusammenarbeit längst als überholtes Modell.
Und dennoch trauen sich nur wenige hiesige Unternehmen an die dauerhafte Einführung einer Vier-Tage-Woche heran. Hier lesen Sie, warum das Modell speziell für Developer*innen interessant ist und für IT-Recruiter*innen ein Ass im Ärmel sein kann.
Was ist die Vier-Tage-Woche?
Grundsätzlich bedeutet die Einführung einer Vier-Tage-Woche, dass Mitarbeiter*innen des Unternehmens ihre Arbeit statt vorher an fünf nur an vier Tagen in der Woche erledigen.
Die mediale und politische Diskussion des Themas dreht sich vor allem um die Frage, wie das Vier-Tages-Modell im Detail organisiert wird: Bedeutet es eine Arbeitszeitverkürzung der klassischen 40-Stunden-Woche bei gleichbleibendem Gehalt? Ursprünglich sieht das Konzept der Vier-Tage-Woche einen Schlüssel von 100/80/100 vor: 100 Prozent Produktivität in 80 Prozent der Zeit bei 100 Prozent Bezahlung.
In der Praxis wurden bisher mehrere Modelle ausprobiert:
- Das isländische Modell gilt als Vorreiter und bekanntestes Beispiel einer landesweiten Vier-Tage-Woche. Fünf Jahre lang wechselten 2.500 Angestellte auf ein Arbeitsmodell mit vier Wochentagen und 35 Stunden, bei gleicher Bezahlung wie im 40-Stunden-Modell.
- Die belgische Variante beruht auf Arbeitszeitverdichtung, daher wird das Arbeitspensum von 40 Stunden auf vier Tage mit etwa zehn Arbeitsstunden in der Woche verteilt, das Gehalt bleibt gleich.
- Als freiwillige Arbeitszeitverkürzung mit verringertem Gehalt haben einige Unternehmen die Vier-Tage-Woche integriert.
- Auch das punktuelle Einführen einer Vier-Tages-Woche ist bei Unternehmen beliebt: So bieten manche etwa in den Sommermonaten eine saisonale verkürzte Woche an. Andere Betriebe geben alle zwei Wochen den fünften Arbeitstag frei.
Welche Vorteile hat dieses Arbeitsmodell?
Unabhängig davon, wie das Modell im Unternehmen organisiert wird, kann die Vier-Tage-Woche für Arbeitgeber*innen und -nehmer*innen einige Vorteile bringen:
- Steigerung der Produktivität und Ergebnisorientiertheit: Forschungsergebnisse des isländischen Projekts zeigen, dass die Produktivität der Mitarbeiter*innen in einer Vier-Tage-Woche gleich blieb oder um bis zu ein Drittel gesteigert werden konnte. Unterstützt wird dies von Studien, die Personal in Teilzeitverhältnissen im Vergleich zu Vollzeitarbeitenden als produktiver und effizienter einstufen.
- Mehr Vertrauen und Autonomie für Arbeitnehmer*innen: Die Vier-Tages-Woche bedeutet auch, dass Führungskräfte ergebnisorientierter denken und ihren Mitarbeiter*innen mehr Autonomie in der Zeit- und Arbeitseinteilung gewähren. Dadurch entsteht eine Vertrauenskultur im Unternehmen, die Verantwortungsgefühl und flachere Hierarchien fördert.
- Gesundheitliche Vorteile: Die Auswertungen internationaler Versuche belegen eine markante Reduktion der Krankenstände im Vier-Tage-Woche-Modell. Drei freie Tage in der Woche sorgen für tiefere Erholung, mehr Zeit für Sport und Freizeit sowie medizinische Termine. Nicht zuletzt verringern sich psychische Belastungsfaktoren wie Stress und Überarbeitung.
- Bessere Recruiting-Chancen im War for Talents: Da die Vier-Tage-Woche noch wenig verbreitet ist, kann sie zur effektiven Waffe im Employer Branding und Recruiting von Talenten im Zeiten des Fachkräftemangels werden. Nach einer Umfrage von Leitbetriebe Austria und ZLÖ wünschen sich aktuell 85 Prozent der jungen Österreicher*innen innovative Arbeitgeber*innen mit flexiblen Arbeitszeiten.
- Höhere Zufriedenheit und weniger Fluktuation: Laut Befragungen mehrerer Unternehmen wollten die meisten Mitarbeiter*innen nach einer probeweisen Einführung der 4-Tage-Woche nicht mehr zurück zum klassischen Modell. Das Mehr an Freizeit und Flexibilität steigert die persönliche Zufriedenheit und Motivation, auch die Bindung an Team und Unternehmen werden langfristig als stärker empfunden.
Warum ist die Vier-Tage-Woche gerade für Entwickler*innen so interessant?
Internationale Kündigungswellen, der hohe IT-Fachkräftemangel und die wachsende Nachfrage digitaler Produkte versetzen Developer*innen aktuell in die Lage, sich Jobs und Arbeitgeber*innen quasi frei aussuchen zu können. In unserem Developer Report 2019 gaben 69 Prozent der Befragten an, dass dabei die verlangten Arbeitsstunden und flexible Arbeitszeiten zu den wichtigsten Entscheidungsfaktoren gehören.
Bei viele Entwickler*innen resultierte der große Arbeits- und Zeitdruck während des Pandemiehochs in gesundheitlichen Belastungen bis hin zum Burnout. Mehr Zeit für Familie, Sport, Erholung oder eigene Projekte wird zunehmend attraktiver als Prestige und hohes Gehalt.
„This meeting could have been an email“
Darüber hinaus sind Developer*innen durch Scrum-Teams, DevOps oder andere agile Methoden gewöhnt, selbstorganisiert und ergebnisorientiert zu arbeiten. Die Vier-Tage-Woche verstärkt diese Vertrauenskultur im Unternehmen und soll vor unrealistischen Arbeitspensen schützen. Um erfolgreich zu funktionieren, fordert das Modell von Arbeitgeber*innen wie auch Mitarbeiter*innen vorhandene Strukturen und Prozesse zu überdenken, um potenzielle Zeitfresser oder schlechte Gewohnheiten auszumerzen.
Vier-Tage-Woche in der Praxis: Erfolgsgeschichten (inter)nationaler Unternehmen
Eines der bekanntesten internationalen Pilotprojekte zur Vier-Tage-Woche hat Microsoft durchgeführt. 2019 testete der japanische Unternehmenszweig mit insgesamt 2.300 Mitarbeiter*innen das Konzept einen Monat lang und verzeichnete dabei eine bis zu 40 Prozent höhere Produktivitätsrate bei mehr Mitarbeiterzufriedenheit. Allerdings wurde das Modell seither nicht ausgeweitet oder an anderen Standorten implementiert.
Internationale Best Practice Beispiele
Die Social Media Plattform Buffer begann 2020 mit einer einmonatigen Testphase. Das Remote-First-Unternehmen mit 85 Mitarbeiter*innen in 15 Ländern weitete diese Phase zuerst auf sechs Monate aus und übernahm das Modell dann als langfristige Lösung. Laut kontinuierlichen Mitarbeiterbefragungen fühlte sich die Mehrheit des Teams gleich produktiv oder produktiver im Vergleich zu vorher. Zu den Vorteilen zählen die Mitarbeiter*innen die bessere Work-Life-Balance, weniger Stress und höhere Konzentrationsfähigkeit. Ein großen Teil seiner Erfolgsgeschichte hat Buffer dem innovativen Employer Branding mit Fokus auf Mitarbeiter*innen und transparente Prozesse zu verdanken.
Auch das spanische Softwareunternehmen Delsol berichtet nach einem Jahr Vier-Tage-Woche von mehr Mitarbeiterzufriedenheit, trotz der Pandemie-Hochphase gab es 28 Prozent weniger Krankenstände und der Umsatz konnte sogar um 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesteigert werden. So konnten anfänglich hohe Investitionen für mehr Personal im Kundenservice, zusätzliche Weiterbildungen etc. ausgeglichen werden.
Unternehmen im DACH-Raum
Ein Vorreiter der Vier-Tage-Woche in Österreich ist das Online Marketing Unternehmen eMagnetix, welches bereits 2018 auf 30 Wochenstunden unter Vollzeit-Entlohnung umgestellt hat. Der ursprüngliche Anreiz der Geschäftsführung war es, mehr qualifizierte Bewerber*innen zu finden, heute hat sich das Team dank des besonderen Arbeitszeitmodells verdreifacht. Die Produktivität und Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen wird regelmäßig von externen Expert*innen evaluiert, bis dato sind die Ergebnisse positiv. Als Reaktion auf das Personalfeedback wird die flexible Einteilung der Stunden nun ganz dem Team überlassen.
Bike Citizens steht hinter der gleichnamigen Navigationsapp für Fahrräder. Die Mitarbeiter*innen des App-Entwicklers mit Standorten in Graz und Berlin haben seit 2014 freitags frei und arbeiten insgesamt 36 Stunden. Nach Lohnreduzierungen in der Frühphase ist das Gehaltsniveau durch stetige Steigerungen heute sogar höher als zuvor. Anfängliche Bedenken rund um hohe Workload bei weniger Arbeitszeit konnten durch die gezielte Umstrukturierung von Arbeitsabläufen ausgeräumt werden.
Eine Kernarbeitszeit von neun bis 15 Uhr sorgt für mehr Flexibilität, Meetings werden nur am Nachmittag angesetzt. Durch Aktionen wie gemeinsames Frühstück und Mittagessen soll der soziale Austausch, der in der konzentrierten Arbeitszeit reduziert wird, bewusst nachgeholt werden. Dank dieser Maßnahmen waren grassierende Probleme wie der IT-Fachkräftemangel, Fluktuation oder Burnout-Fälle bisher kein Thema für das Unternehmen.
Fazit: Wer Developer sucht, sollte auf flexible Arbeitszeiten setzen
Sogenannte „New Work“-Konzepte werden von Kritiker*innen oft als vergängliche Trends abgetan, auch die Vier-Tage-Woche ist für traditionellere Unternehmer*innen ein utopisches Konzept. Zu hohe Kosten für Gehälter bei zu wenig Output, Kundenunzufriedenheit oder mehr Leistungsdruck – dass sind nur einige der gängigen Bedenken.
Best-Practice-Beispiele aus In- und Ausland zeigen, dass die Vier-Tage-Woche nicht nur langfristig erfolgreich sein kann, sondern vor allen Dingen eine zeitgemäße Antwort darstellt auf Probleme wie den Fachkräftemangel, die great resignation und Umbrüche des Arbeitsmarkts durch die Pandemie.
Besonders für Unternehmen, die Probleme mit dem Recruiting von IT-Fachkräften haben, kann das Angebot einer Vier-Tage-Woche ein Trumpf im Ärmel sein. Denn mehr als zwei Drittel der Software Entwicklerinnen und Co. sind gerade an der Schwelle eines Jobwechsels und suchen nach Arbeitgeber*innen, die ihnen Autonomie sowie Flexibilität in der Arbeits- und Zeiteinteilung zugestehen. Je mehr Führungskräfte diesen mutigen Schritt setzen, umso wahrscheinlicher ist zukünftig die Akzeptanz seitens Kunden und politischen Entscheidungsträgern.